Liebe Leserinnen und Leser, gerade habe ich zwei Monate Zeit verloren. Ich habe mir bei einem Fahrradunfall eine Verletzung zugezogen, musste operiert werden und war dann viele Wochen immobil. Neben dem Schrecken, von dem ich mich inzwischen gut erholt habe, war das eine erzwungene Ruhe-Zeit, in der ich alle meine Projekte und alles, was mir im Leben Freude macht, vergessen konnte („Das kannst du vergessen“).
Was meinen wir eigentlich, wenn wir sagen, wir hätten Zeit verloren? Es impliziert ja, dass wir etwas besitzen, das wir plötzlich nicht mehr haben. Dann wäre es ein Verlust, der uns zu schaffen macht, vielleicht sogar schmerzt („ein schmerzlicher Verlust“). Ich meine allerdings – und das nicht erst seit der oben geschilderten Erfahrung – , dass mir die Zeit garnicht gehört, sondern dass ich in der Zeit bin, sozusagen in ihr wohne. Sie hat dann die Qualität eines Raumes, der um mich herum existiert und nicht durch mein Tun und meine Absichten beherrschbar ist. Die Zeit birgt mich und mein Leben – ein sehr tröstlicher Gedanke, der in der Arbeit mit dem Erfahrbaren Atem auch erlebt und empfunden werden kann.
Ich komme wieder auf meine Lieblingsphilosophin zurück, Anne Dufourmantelle. Sie schreibt in ihrem Buch „Lob des Risikos“ über das Zeitgewinnen und Zeitverlieren:
Wir sagen gern: Ich habe Zeit gewonnen, als könnte dieser Gewinn uns befriedigen, uns eine Ersparnis ohne Geld und Gegentausch erlauben, den Gewinn eines nicht quantifizierbaren Lebensüberschusses, der uns einen Zugewinn an Sein ermöglichte. (… ) Ganz anders hingegen jene innere Bewegung, die uns zum Zuhören veranlasst, einem schwebenden Zuhören, das (…) uns (…) erlaubt, sanft die Wirklichkeit an uns heranzulassen.
Dufourmantelle, A., Lob des Risikos, Berlin 2018, S. 106
Sich treiben lassen, sich in einer Stadt verirren, obwohl man sie kennt, Zeit für ein Gespräch finden, das sich endlos hinziehen kann, einen Termin vergessen, eine Nacht bis zum Morgen durchwachen, sich für eine Weile mit unseren Gespenstern versöhnen – alles Augenblicke, die der Wirtschaftlichkeit unserer Bindungen, die wir gern ebenso effizient wie unsere Terminkalender verwalten würden, abgetrotzt werden.
Dufourmantelle, A., a.a.O. S. 108
Beobachten Sie doch einmal, was geschieht, wenn Sie Zeit verlieren. Was geschieht in den Momenten „dazwischen“? Wenn Sie vergeblich vor einer Tür stehen, wenn Sie in der Tiefgarage Ihr Auto suchen, wenn Sie durch einen Kopfschmerz nicht mit Ihrer Arbeit vorankommen … . Die Momente, in denen nichts geschieht, können sehr kostbar sein. Wir kennen sie auch im Erfahrbaren Atem. Die Ruhe nach dem Ausatem beschert uns eine neue Haltung zu den Dingen: Wir müssen nichts tun, sondern dürfen vertrauensvoll auf den nächsten (Atem-)Impuls warten.