Liebe Leserinnen und Leser, kennen Sie noch den Ausdruck „Bleib’ mir vom Leib!“? Darüber schreibe ich heute. Halte Abstand! Lass’ mich in Ruhe! Bleib’ mir vom Leib! In der Aufzählung liegt eine gewisse Steigerung. Über das ‚Abstand halten’ hören und lesen wir jeden Tag, 1,5 Meter sollen es mindestens sein. Das klingt technisch, machbar, rein physisch. Das ‚in Ruhe lassen“ beinhaltet etwas mehr: für begrenzte Zeit nicht angesprochen werden, den eigenen Raum schützen, „Bitte nicht stören!“ steht auf dem Schild an der Hotelzimmertür. Und das ‚vom Leib bleiben’? Laut Duden: Nichts zu tun haben wollen mit …, Distanz wahren, nicht behelligt werden, sich fernhalten von… . Leib meint nicht nur die reine Physis, er ist der beseelte Körper, das was der Mensch ist, der diesen Körper hat. Generisch kommt das Wort ‚Leib’ von ‚Leben’. Wenn wir sagen „beileibe“ oder „beileibe nicht“, dann ist das besonders bestimmt und wirklich gemeint. Dann berührt es unsere Existenz, unser Leben.
Ich muss sagen, mir geht es erheblich besser, seit die Corona-Regeln gelockert wurden und mein soziales Leben sich wieder intensiviert hat. Wie viele andere habe ich darunter gelitten, so beschränkt zu sein in meinen Möglichkeiten zur Begegnung. Was geht (ging) da eigentlich ab? Was macht(e) uns leiden?
Wir sind Körper.Wenn andere uns ausweichen, dann weichen wir ihnen auch aus und umgekehrt. Das verunsichert, weil uns ein Stück Erdung fehlt. Erdung braucht das körperliche Sein mit anderen, es gibt Sicherheit und das Gefühl von geborgen sein in der Welt, auch wenn diese uns nicht nur freundlich entgegen kommt.
Wir brauchen Begegnung.Wenn uns die Möglichkeit zur Begegnung mit anderen -mit Ausnahme der allernächsten Familienangehörigen – entzogen ist, fehlt etwas sehr Wichtiges, das wir zur Erhaltung unserer Gesundheit benötigen. Wir brauchen die Gelegenheiten, über das Ausmaß von Nähe und Distanz zu anderen Menschen entscheiden zu können, es könnte sonst über kurz oder lang unsere Fähigkeit zur Begegnung verloren gehen. Diese brauchen wir aber, um uns (weiter) zu entwickeln. So wie sich in der Partnerarbeit im Erfahrbaren Atem Neues, Einmaliges entwickelt, so birgt auch jede Begegnung im Alltag eine Chance, dass wir etwas daraus erschaffen und sei es nur, dass wir unsere Sicht auf eine Sache ändern.
Wir sind dreidimensional. Um einander zu begegnen, brauchen wir alle unsere Sinne. In der zweidimensionalen Kommunikation, beispielsweise vor einem Bildschirm, hören und sehen wir den anderen, doch alle anderen Sinne sind nicht beteiligt. Zudem können wir den Blicken der Gesprächspartner nicht begegnen, obwohl wir sie sehen. Nicht ohne Grund wird das als sehr anstrengend erlebt. Und fragen Sie sich doch einmal, was Sie bei einer Videokonferenz empfinden!
Die Regeln des social distancinggeben uns glücklicherweise noch genug Raum, um uns zu entscheiden, wie wir die Situation gestalten und wo wir auf Dauer hin wollen. Finden wir es letztlich bequemer und weniger konfliktträchtig, wenn wir uns andere Menschen vom Leibe halten können, werden wir die digitalen Möglichkeiten begrüßen und auch ohne Not extensiv nutzen. Wenn wir uns aber bewusst sind, dass wir körperliche, in der Welt verankerte Wesen sind, werden wir immer auch Gelegenheiten suchen, bei denen wir den Mitmenschen in die Augen sehen und sie spüren können. Das verleiht uns Sicherheit und die Freiheit entscheiden zu können, wie wir anderen begegnen wollen – und das bedeutet: mehr Freude am Leben, auch in schwierigen Zeiten!